Die Grenzen der Ordnungen. Transgressionen und ihre Produktivität in der Antike

Die Grenzen der Ordnungen. Transgressionen und ihre Produktivität in der Antike

Organisatoren
Ann-Cathrin Harders, Tanja Itgenshorst, Dorothea Rohde (Universität Bielefeld)
Ausrichter
Universität Bielefeld
PLZ
33615
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
30.09.2022 - 01.10.2022
Von
Marthe Becker, Universität Bielefeld; Malte Speich, Alte Geschichte, Universität Bielefeld

Anlässlich der 60. Geburtstage von Uwe Walter und Raimund Schulz wurde an der Universität Bielefeld vom 30.09. zum 01.10.2022 eine Tagung mit dem Titel „Die Grenzen der Ordnungen ¬ Transgressionen und ihre Produktivität in der Antike“ veranstaltet, die von der DFG sowie dem SFB 1288 „Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern“ gefördert wurde. Die Organisatorinnen Ann-Cathrin Harders, Tanja Itgenshorst und Dorothea Rohde banden das Konferenzthema konzeptionell an die Forschungsschwerpunkte der beiden Jubilare an; dabei wies Harders in ihrer Einleitung auf die Aktualität von Normbrüchen und Transgressionen hin: Seit der Covid-Pandemie seien soziale Tabubrüche ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt, durch den Ukrainekrieg bekamen auch geographische Transgressionen einen tragischen Gegenwartsbezug. Unter Ordnungen verstehen die Organisatorinnen im Allgemeinen Institutionen sowie akzeptierte Denk- und Handlungsstrukturen, die symbolisch, temporal, räumlich, rechtlich und sozial konstruiert werden. Auf der Tagung wurde danach gefragt, wo Transgressionen solcher Ordnungen auftreten und was sie im jeweiligen Einzelfall bewirken können.

Den Anfang der ersten Sektion „Die innere Ordnung und ihre Grenzen“ machte DANIEL EMMELIUS (Duisburg-Essen) mit einer Untersuchung zum Pomerium bei Cassius Dio. Gestützt auf die Ergebnisse seiner Dissertation konturierte Emmelius den Pomeriumsbegriff beim kaiserzeitlichen Historiographen im Gegensatz zu dessen Vorgängern und arbeitete heraus, dass die Stadtgrenze Roms bei Dio eingesetzt wird, um soziale, politische und militärische Normbrüche sichtbar zu machen und so den Niedergang der Republik nachzuzeichnen. ANGELA GANTER (Regensburg) beleuchtete die soziale Institution der römischen clientela bei Cicero, Martial und Cyprian, wobei sie sich auf den Aspekt der römischen „face to face society“ konzentrierte. Die Ordnung des Klientelwesens werde fundamental durch den direkten Kontakt zwischen Patron und Klienten konstituiert. Ausgehend vom spätrepublikanischen commentariolum petitionis problematisierte Ganter, dass clientela gerade in der Kaiserzeit an ihre Grenzen getrieben wurde, da wenige finanziell besonders potente Patrone in der Lage waren, selbst Mitglieder der Elite zu Klienten zu machen. Cyprian schließlich sei durch eine Flucht während der Verfolgung von seinen Klienten räumlich so sehr entrückt, dass er die Verbundenheit zu seinen Schutzbefohlenen durch eine christliche Rhetorik der Nähe zu verdeutlichen suchte. JAN TIMMER (Bonn) widmete sich einer Intersektion aus Archäologie und Geschichtswissenschaft, indem er die Altersmarker und die dahinterliegenden Konzepte spätrepublikanischer Porträts untersuchte. Hierbei zeigte er auf, dass das Alter zwar keinen ästhetischen, aber dafür einen politischen Wert hatte. Mit gealterten Menschen verband man severitas, auctoritas und tranquillitas sowie consilium. Erst der Aufstieg Octavians stellte diese Normen auf die Probe, da der junge Mann alle anderen (älteren) überflügelte und sich letztlich eine bislang ungekannte Machtfülle sicherte. Von nun an setzte das ewig junge Kaiserporträt den Maßstab, sodass optische Unterschiede in den Büsten geringer wurden. Trotz dieser Umwandlung der ästhetischen Normen blieb das Alter ein wirkmächtiger Faktor.

In der Sektion „Die innere Ordnung und der Umgang mit der Grenzüberschreitung“ forcierte CHRISTOPH LUNDGREEN (Dresden) die theoretische Ebene, indem er über die Sichtbarkeit von Normbrüchen reflektierte. Er stellte die Frage, ob eine nicht wahrgenommene und nicht geahndete Grenzüberschreitung überhaupt noch eine Transgression sei und welchen Nutzen man mit ihr verbinden könne. Normbrüche dürfe man dahingehend als einen Test verstehen, der eine Gegenreaktion provoziere. Dadurch, dass die Mehrheit der Gesellschaft eine Ordnung verteidige, bekomme diese Geltung. IVAN JORDOVIĆ (Novi Sad) setzte sich mit den Gründen für Platons Analogie des Funktionierens seines Idealstaates zu seiner Seelenlehre auseinander. Vor dem Hintergrund der staseis seiner Zeit entwickelte Platon eine politische Philosophie anhand Handlungsmuster eines Tyrannen ¬ eines Herrschers, der de facto von Institutionen und Normen entbunden ist. In der Tyrannis wie in der stasis handeln die Akteure nach den ‚tyrannischen‘ Maßgaben der Macht und des Eigennutzes. Menschliche Motivationen gewinnen bei diesen Verhältnissen ohne klare Ordnung besondere Brisanz; Platon erkannte eben das und machte es zum Kern seiner Idee von Staatsführung. SVEN GÜNTHER (Changchun) fragte danach, wie einerseits in Athen in Xenophons phoroi, andererseits in Rom durch das ius commercii ökonomische Räume überschritten und neu modelliert wurden. In einer vergleichenden Analyse argumentierte Günther, dass viele Transaktionen und Wirtschaftshandlungen abseits von geregelten Ordnungen ablaufen konnten.

Den Abschluss des ersten Tages bereitete die Keynote STEFAN REBENICHS (Bern), der das Verhältnis vom spätantiken Kaisertum zu den vielen Christentümern veranschaulichte. Rebenich fasste Herrschaft nach Max Weber als soziales Phänomen auf, das er in den historischen Kontext der Spätantike einordnete. Das spätrömische Kaisertum zeichnete sich durch geteilte sowie christliche Herrschaft aus. Da der Kaiser von Gott gesandt war, musste er christlichen Werten entsprechen. Das konnte zum Problem werden, sobald der Kaiser selbst in religiösen Belangen tätig wurde. Er musste seine Version des Christentums durchsetzen, was gerade in der multikonfessionellen Welt der Spätantike zur Mammutaufgabe wurde. Versuchte ein Machthaber, das Christentum zu einigen, führte das i.d.R. zu einer weiteren Spaltung. Die Herrschaft eines Kaisers konnte schließlich sogar dadurch destabilisiert werden, dass man den Herrscher zum Häretiker erklärte und ihn damit jenseits der akzeptierten Ordnung verortete.

Der zweite Konferenztag begann mit einer Sektion zum Thema „Voraussetzungen für die Grenzüberschreitung“ und wurde mit Vorträgen vonseiten der Jubilare eröffnet. UWE WALTER (Bielefeld) wandte sich in seinem Vortrag erneut der Frage nach Ordnungskonzepten in der römischen Republik zu. In einem ersten Schritt ging er auf vielfältigen Bedeutungsebenen des ordo-Begriffes ein; so verdeutlichte er, dass auch die Römer keine einheitliche Vorstellung von Ordnung hatten, und skizzierte den Wandel der Ordnung von der Republik in den Prinzipat. In einem zweiten Schritt analysierte Walter die Rolle der Ordnungsvorstellungen auf der wissensgeschichtlichen Ebene und gab einen breiten und gelehrten Überblick über die Rolle der Ordnung von Mommsen bis Meier. Denn man müsse sich, so Walter, mit der Tendenz praxeologischer Forschungen auseinandersetzten, durch die Ordnungen und ihre Stabilität außerhalb der Akteure negiert werde. RAIMUND SCHULZ (Bielefeld) lenkte den Blick auf Grenzüberschreitungen im Sinne transregionaler Mobilität. Er leitete daraus ab, dass Mobilität und Grenzüberschreitungen in soziale Traditionen eingebunden sind, die sich je nach Handlungsrahmen unterscheiden. Doch auch äußere Bedingungen strukturieren Mobilität: Denn Mobilität werde durch politische bzw. staatliche Gesamtstrukturen bestimmt. Schulz betonte abschließend die Rolle der Händler, als „heimliche Helden“ der Mobilität, deren Grenzüberschreitungen sie zu Trägern von Informationen machten.

In Sektion V. „Jenseits der Grenzen: Akteure, Räume und Erfahrungen“ setzte sich KOSTAS BURASELIS (Athen) mit griechischen Ärzten an antiken Königshöfen auseinander und skizzierte die Karrieren von Demokedes von Kroton, Ktesias von Knidos und Hippokrates. Er machte auf die Akzeptanz medizinischer Dienste aufmerksam. Nicht die zugeschriebene Ethnizität, sondern die Verlässlichkeit und die Fähigkeiten des Arztes waren ausschlaggebend für das entgegengebrachte Vertrauen. Aus seinen Beispielen schloss Buraselis, dass beide Seiten, sowohl Ärzte als auch Monarchen, den Nutzen ihrer Koexistenz erkannten, denn (medizinisches) Fachwissen sei stets zu mächtig, um von politischen Akteuren ignoriert zu werden. EIVIND SELAND (Bergen) betrachtete den indischen Ozean ab dem 3. Jh. n. Chr. aus einer globalen Perspektive. Hierbei unterschied er zwischen „lived space“, „conceived space“ und „perceived space“. Seland demonstrierte, dass der Indische Ozean auch in der Spätantike ein belebter Ort war, und wenn die Akteure nicht miteinander verbunden waren, dann doch die Orte. MARIE LEMSER (Bielefeld) widmete sich in ihrem Beitrag der produktiven Kraft der Utopien. Das Motiv der sagenhaften Insel beflügelt die Fantasie, sowohl in hellenistischen ethnographischen Texten als auch in der Gegenwart. Sie demonstrierte, dass die Jambulus-Erzählung bei Diodor auf rasterartigen Ordnungsprinzipien beruht, die seit Herodot in ethnographischen Texten verankert seien. Lemser ging es nicht darum, die Insel des Jambulus zu lokalisieren, sondern um das Verschwimmen der Grenzen von Fiktion und Realität. Über das Spiel mit den Genregrenzen habe die Insel des Jambulus das Potenzial, zum Spiegel der eigenen Gesellschaft zu werden, dabei die eigene Ordnung zu stabilisieren, und diene gleichsam der Unterhaltung des Publikums.

In Sektion VI. „Das Einordnen des Außen“ thematisierte JOHANNES ENGELS (Köln), wie geographische Räume von Herodot bis Strabon gedacht wurden. Rein praktisch habe es kaum stabile Grenzen gegeben, weil selbst naturräumliche Grenzen wie Flüsse und Berge überquert werden konnten. Somit strukturierten flexible Barrieren antike Landschaften. Die Vorstellungen über geographische Räume divergierten je nach Profession der Akteure; so nahmen Militärs Landschaften anders wahr als die Gelehrten in Alexandria. Insbesondere Explorationsfahrten wie die Afrikaumseglung der Phöniker oder die Reise des Pytheas gen Norden stellten Grenzüberschreitungen der damaligen mental map dar. Engels schloss seinen Vortrag mit dem stagnierenden kartographischen Wissen, dem spätestens seit dem 2. Jh. kaum noch Innovatives hinzugefügt wurde. JULIAN GIESEKE (Bielefeld) zeigte auf, wie Strabon über Vergleiche von Bekanntem und Unbekanntem das Bild der iberischen Kantabrer und Asturer formte. Indem der antike Geograph beide Gruppen als besonders rau und wild charakterisierte, verschob er die Dichotomie zwischen ‚Barbaren‘ und ‚Zivilisierten‘ an die westlichen Grenzen des Imperiums und hielt so die Trennung der Bewohner des Imperiums und der Außenwelt aufrecht. ERNST BALTRUSCH (Berlin) diskutierte am Beispiel des Jüdischen Krieges die Möglichkeiten, sich römischem Völkerrecht zu nähern. Josephus manipuliere im Bellum Iudaicum seine Leserschaft, denn er suggeriert, es habe sich beim jüdischen Krieg um einen legitimen völkerrechtlichen Krieg gehandelt. Doch aus römischer Sicht überschritten die Flavier keine Grenzen, der jüdische Krieg war für sie vielmehr ein Krieg im Inneren. Baltrusch schlug vor, innen und außen nicht territorial, sondern intentional zu begreifen. Denn dann könne ein Krieg, auch unabhängig vom Territorium, ein äußerer sein. Aus römischer Perspektive müsse Außenpolitik zwei Dinge miteinander verbinden: Einflussnahme auf andere Staaten, ohne aber das Eingeständnis eines defektiven imperium sine fine. Imperien sehen sich nicht als Teil, sondern vielmehr als Garant der von ihnen selbst geschaffenen Ordnung. Für Rom gibt es keine Transgressionen im grenzüberschreitenden Sinne, weil es keine Grenzen gibt.

Die Konferenz hat aufgezeigt, wie anhand von Normbrüchen vielschichtige Dynamiken antiker Gesellschaften skizziert und problematisiert werden können. Gerade dass sich die Themen über die gesamte Spannweite der Antike streckten, demonstrierte die akademische Wirkkraft des Transgressionsbegriffes und verband auf gelungene Weise die wissenschaftlichen Schwerpunkte der Jubilare mit den Impulsen ihrer Wegbegleiter:innen.

Konferenzübersicht

Ann-Cathrin Harders (Bielefeld), Tanja Itgenshorst (Freiburg), Dorothea Rohde (Bielefeld): Einführung

I. Die innere Ordnung und ihre Grenzen

Daniel Emmelius (Essen): Cassius Dio und das Pomerium des republikanischen Rom. Rekonstruktion einer Grenze der inneren Ordnung

Angela Ganter (Regensburg): Ich kenne dich – nicht: Grenzüberschreitende Kommunikationsstrategien in römischen Patron-Klient-Verhältnissen

Jan Timmer (Bonn): Frühreife Jugend und junggebliebene Alte: Zur Ausbildung neuer Alterskonzepte am Ende der römischen Republik

II. Die innere Ordnung und der Umgang mit der Grenzüberschreibung

Christoph Lundgreen (Dresden): Der Nutzung von Normbrüchen

Ivan Jordović (Novi Sad): Die Pathologie der Stasis und die Ursprünge von Platons Seele-Staat-Analogie. Zum historischen Kontext von Platons Methode des Vergleichs

Sven Günther (Changchun): Überschreitung und Remodellierungen von ökonomischen Räumen

III Keynote
Stefan Rebenich (Bern): Der christliche Kaiser. Die Grenzen der monarchischen Ordnung in der Spätantike

IV. Voraussetzungen für die Grenzüberschreitung

Uwe Walter (Bielefeld): Der Bruch mit der Ordnung. Nochmals zur römischen Republik

Raimund Schulz (Bielefeld): Aufbruch in die Ferne – transregionale Mobilität und Grenzüberschreitungen in der Antike

V. Jenseits der Grenzen: Akteure, Räume und Erfahrungen

Kostas Buraselis (Athen): Die Ordnung des Wissens und die Ordnung der Macht: Bemerkungen zur Stellung griechischer Ärzte an antiken Königshöfen

Eivind Seland (Bergen): Religious travelers in Late Antiquity and the Indian Ocean as ‚lived space‘

Marie Lemser (Bielefeld): Jenseits der Grenzen: Zum Verhältnis zwischen hellenistischer Ethnographie und utopischen Reiseberichten

VI. Das Einordnen des Außen

Johannes Engels (Köln): Zur Darstellung und Beschreibung von Räumen an den Grenzen der Oikumene in der antiken Kartographie und Kulturgeographie

Julian Gieseke (Bielefeld): Grausame Jünger des Ares. Strabons Bewertung der Kantraber und Asturer im Kontext der augusteischen Eroberung Nordspaniens

Ernst Baltrusch (Berlin): Handlungsspielräume im Grenzraum – Judäa in der frühen Kaiserzeit